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Über Femizide sprechen: 101




„Alle 3 Minuten erlebt eine Frau Gewalt“, „Jeden Tag ein Femizid: ermordet, weil sie eine Frau ist“, „Mehr Frauen sterben durch Gewalt“. Dank der orange days, die zu mehr Sichtbarkeit & Bewusstsein für männliche Gewalt gegen Frauen beitragen wollen, lese ich derzeit fast stündlich Beiträge zum Thema. Doch fehlen in Etlichen die Worte „Mann/Männer“, „Ex/Partner“, „Täter“, wählen Autor:innen Passivkonstruktionen & fragwürdige Verben wie „erleben“. Dabei geht es um kein Erlebnis, sondern um von Männern begangene Verbrechen. Im Kontext Femizid sterben Frauen nicht, sie werden nicht umgebracht: Männer töten sie. Zitierte Formulierungen suggerieren, es handele es sich um Taten ohne Täter, um Schicksalsschläge, denen frau machtlos ausgeliefert sei. Vor allem um etwas, das Frauen beeinflussen könnten. Wen wundert es da, dass mittlerweile sogar mancher Mann weibliche Opfer kennt, doch weiterhin zuverlässig keiner einen Täter?


Selbst das BKA nennt unter der Überschrift „Ursachen für die Gewalt gegen Frauen“: „Die zunehmende Emanzipation von Frauen“, die „für Männer aufgrund der nach wie vor in unserer Gesellschaft verankerten patriarchalen Strukturen als Bedrohung aufgefasst werden kann“. Auch das: auf den Kopf gestellt. Zwar fällt der Hinweis auf „Strukturen“, doch ist das Mitgefühl, das Verständnis mit den männlichen Tätern: Wenn Mann sich bedroht fühlt, darf Mann sich verteidigen. Und wenn die Frauen die Bedrohung auslösen, ist klar, wer schuld ist.


Obige Bespiele folgen dem Muster klassischer Täter-Opfer-Umkehr: Das weibliche Geschlecht wird als ursächlich für die Gewalt konstruiert, steht somit in der Macht & Verantwortung, sie zu beenden. „Warum verlässt sie ihn nicht?“, „Wieso lässt sie sich schlagen?“, „Mir könnte das nie passieren!“ sind Versionen davon, die dem Narrativ folgen. Statt zu fragen, warum er schlägt, vergewaltigt, terrorisiert, tötet, weshalb er damit durchkommt, wieso ihr niemand hilft – wird sie hinterfragt, werden ihre Worte angezweifelt, wird sie für seine Taten verantwortlich gemacht. Die Lüge vermeintlich weiblicher Macht darüber legitimiert die Umkehr der Schuld & Verantwortung zusätzlich.


Bei der sprachlichen Abbildung männlicher Gewalt gegen Frauen ist die Verwendung des Aktivs so essentiell wie der Fokus auf die Täter als Verursacher. Als Grund für oder Definition von Femiziden darf kein „weil sie eine Frau/weil sie ein Mädchen ist“, „weil sie emanzipiert ist“ folgen. Femizide & männliche Gewalt sind keine Akte aus Liebe oder Notwehr. Femizide, als höchste Form patriarchaler Gewalt, sind von Männern begangene Morde aus Frauenhass. Es sind Taten von Männern, die sich dazu entscheiden, Täter zu werden. Es geht um verletzte männliche Besitzansprüche, es geht um die in patriarchalen Strukturen & Kultur begründete Annahme einer angeblich natürlichen männlichen Vorherrschaft & rechtmäßigen Verfügungsgewalt über Frauen, weshalb juristisch immer von niederen Beweggründen ausgegangen werden müsste. Fast logisch, jedenfalls konsequent aber wirkt vor deutschen Gerichten eine (frühere) intime Partnerschaft für den Täter strafmildernd. Soviel zur Frage, wessen Geistes Kind dieser Staat ist. Während er behauptet, „der Schutz des ungeborenen Lebens“ sei der Grund für die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, versagt er lebenden Frauen & ihren Kindern lebensrettenden Schutz vor Gewalt & das Recht auf gewaltfreies Leben. Es ging nämlich noch nie um Schutz; es ging schon immer um Kontrolle weiblich gelesener Körper & die Sicherstellung ihrer Verfügbarkeit. Noch brauchen sie uns für ihren Fortbestand & mehr denn je für unbezahlt zu verrichtende Arbeit.


Männliche Gewalt gegen Mädchen & Frauen, ob in oder außerhalb von Partnerschaften findet statt, weil Jungs & Männer lernen, die Welt, insbesondere Frauen hätten sich um sie zu drehen, sich ihnen & ihren Bedürfnissen unterzuordnen, sich männlichen Ansprüchen entsprechend zu verhalten inkl. dem Recht, sich ungestraft mit Gewalt durchzusetzen wenn Mädchen & Frauen sich verweigern, widersprechen, sich entziehen. Männliche Dominanz produziert sich über die Kontrolle von Frauenkörpern, doch vor und für andere Männer. Die Zahlen des BKA, der UN Women & die derzeitige politische Weltlage spiegeln genau das: das Ergebnis patriarchaler, männlich hegemonialer Tyrannei.


All das, so dachte ich, sei weder neu noch erklärungsbedürftig. Mit jedem orangenen Tag komme ich darüber mehr ins Zweifeln.


Deshalb nochmal deutlich: Männer berühren Mädchen & Frauen ungefragt; Männer drängen sich Mädchen & Frauen auf; Männer entwerten Mädchen & Frauen; Männer bedrohen Mädchen & Frauen; Männer schlagen Mädchen & Frauen; Männer vergewaltigen Mädchen & Frauen; Männer missbrauchen Mädchen & Frauen; Männer stalken Mädchen & Frauen; Männer verkaufen & kaufen Mädchen & Frauen; Männer töten Mädchen & Frauen.


Folglich will ich die offiziellen Zahlen für 2023 & den Status quo so besprochen sehen:


Alle drei Minuten verübt ein Mann Gewalt gegen die Ex/Partnerin


180.715 Männer verüben häusliche Gewalt

495 Männer an jedem einzelnen Tag

in über 70% sind die Opfer weiblich


938 Männer entschieden sich, Frauen zu ermorden

Das sind täglich 3 Männer, die Frauen töten wollen

360 Männer töteten Frauen

247 Männer waren mit der von ihnen ums Leben gebrachten Frau verwandt oder (ex)verpartnert

außer an 5 Tagen ermordeten Männer an jedem einzelnen Tag eine Frau im Jahr 2023

 

52.330 Männer begingen Sexualstraftaten

143 Männer verübten täglich Sexualstraftaten

26.165 Männer sind schuldig an einer Sexualstraftat gegen Minderjährige

knapp 90% aller Opfer sind weiblich


17.193 Männer verübten digitale Gewalt

47 Männer jeden Tag

62,3% der Opfer sind weiblich

 

322 Männer verübten politisch motivierte Straf- & Gewalttaten gegen Frauen – ein Anstieg von über 56% zum Vorjahr


Diese Zahlen stehen für Menschen, denen Gewalt angetan wurde – diese Zahlen bilden max. 1/3 der tatsächlichen Fälle männlicher Gewalt gegen Frauen ab. Schätzungen nach liegt das Dunkelfeld bei ca. 90%. Die meisten Täter kommen unangezeigt davon.


Liebe Männer: Lässt euch das auch aufhorchen? Verstehen, was #allmen meint? Erahnen, wieso die Wut steigt mitsamt Forderung nach eurer Reflexion & Positionierung? Wo seid ihr?


Erspart mir: „Es sind unsere Schwestern, Töchter, Mütter“ – ich bin ein Mensch! Frauen sind Menschen. Unabhängig irgendeines Verwandtschaftsgrades haben wir ein Recht auf körperliche, seelische, geistige Unversehrtheit. Das ich daran im Jahr 2024 erinnern muss, macht mich rasend.


Ihr sollt keine von uns beschützen – es genügt, wenn ihr euch selbst & gegenseitig kontrolliert, zurechtweist, belehrt, unterrichtet, bildet & grundsätzlich Grenzen respektiert.


Wo seid Ihr, wenn Eure Brüder, Väter, Cousins, Onkel, Kollegen, Trainingskumpels, Bros & Freunde ihre Frauenverachtung zum Ausdruck bringen? Übergriffig werden? Weiblich gelesene Personen ungefragt anfassen? Sich ihnen aufdrängen? Ihre Witze, Macker- & Sexistensprüche reißen? Über eine Frau herabwürdigend sprechen? Sie (verbal) erniedrigen? Über Vergewaltigungen lachen? Über Frauen prügelnde Männer? Die Frau in der Bar belästigen? In der Bahn? Im Supermarkt? Im Club? Am Strand? Auf der Straße? In der Schule? Im Restaurant? In der Uni? Bei der Ausbildung? Beim Sport? Auf der Arbeit? Im Seminar? In der Fortbildung? Während der Firmenfeier? Beim Familienfest? In Wartebereichen? Im Bus/Flugzeug/der Bahn? Auf dem Heimweg? In Kommentarspalten? Bei Kommentaren, die mit Häme & „AbeR MänNeR leiDeN aUch!“ den Diskurs kapern wollen? Wo seid Ihr, wenn männliche Gewalt zuschlägt? Wo seid Ihr in Anbetracht all des männlichen Frauenhasses, der hier & weltweit jeden verdammten Tag Frauen mordet? Dieser Text hat mich rund 3 Tage beansprucht; im selben Zeitraum haben in der BRD min 9 Männer versucht, Frauen zu töten; weltweit waren es 420 Männer, die zwischen meinem ersten Buchstaben bis zum letzten Punkt Mädchen & Frauen töteten – 140 jeden Tag. Mordversuche: nicht mitgezählt.


Ich wiederhole: Das Geschlechtsspezifische an dieser Gewalt sind Männer. Geschlechtsspezifisch verantwortlich für diese Taten sind Männer. Männer die zu Tätern werden, weil sie es wollen.

Folglich ist es an Männern, diese Gewalt zu verhindern, zu beenden, sich solidarisch mit den (potenziellen) Opfern zu verhalten. Solange das nicht im Fokus steht, wird das Ausmaß männlicher Gewalt weiter zunehmen.


Sprache repräsentiert die Welt über die sie spricht, kreiert sie dabei gleichzeitig & schafft Realitäten. Deshalb beharre ich so auf der Relevanz der Wortwahl mit Verweis auf ihre Wirkung. Veränderung beginnt mit klarer Benennung des Problems & das Problem sind Männer. „Er tötete die Ex/Partnerin, weil Frauen für ihn keine gleichwertigen Menschen mit Recht auf selbstbestimmtes Leben sind.“ „Femizid: Wieder ein Mord aus Frauenhass: Was ist mit den Männern los?“


So oder ähnlich müssten die Texte klingen, sollen sie am Status quo rütteln & bewegen. Jede anders lautende Formulierung perpetuiert das Narrativ von männlicher Gewalt & Femiziden als Frauenproblem, das Frauen lösen müssen. Es verhindert Prävention, reduziert den Druck zur Umsetzung der Vorgaben der Istanbul Konvention & auf Männer, ihre bitter nötige Reflexionsarbeit zu leisten. Vorausgesetzt, sie wollen nicht Teil & Ursache des Problems bleiben und: Täter. Noch glaube ich daran, dass Männer zu mehr, sogar zu Selbstreflexion & Empathie befähigt sind. Und Ihr?

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