"Ich mag deine Wut!" sagt sie, schaut mich dabei ernst an. "Kannst du sagen, wieso du so gut darin bist?" Fragend schaue ich nun sie an. "Ist das eine Kompetenz?" "Ja, sie ist sogar feministisch. Du weißt, dass die wenigsten Frauen sich ihre Wut eingestehen und wenn doch, dann richten sie sie meist gegen sich, suchen Fehler und Auslöser, also wieder die Schuld für ihre Gefühle bei sich." "Ist das noch immer so? Ich dachte, wir wären weiter?" Ihr Schweigen sagt mir alles.
Prompt fällt es mir wieder ein: weibliche Wut ist gefährlich. Auch deshalb ist sie eine der ersten Gefühle, die zu äußern und somit quasi zu empfinden Mädchen aberzogen wird. Je früher die spätere Frau das lernt, desto besser: "Man wird nicht als Frau geboren, man wird zu einer gemacht", wissen wir spätestens seit Simone de Beauvoir. Äußern wir sie doch, werden wir dafür meist hart denn wirksam bestraft - oft durch Liebesentzug, was der Seele die tödlichste Waffe ist, je kleiner wir sind. Die Wunden, die er zieht, wirken nachhaltig.
Mut gehört auch in diesen Katalog der den Mädchen verwehrten Attribute, und nichts davon ist Zufall.

"Wenn du nichts hast und bist, bist du immer noch ein Mann."
Weibliche Wut ist gefährlich, als erstes für die Frau, die sie äußert. Denn eine wütende Frau zeigt keine Angst vor männlicher Dominanz, sie ignoriert ihren Verweis auf die vermeintlich schwächere, von männlichem Wohlwollen abhängige Position und stellt damit automatisch die ohnehin konstruierte, aber noch immer stabile Lüge männlicher Vormacht infrage. "Wer soll dich beschützen, wenn nicht ich?" fragt er, und ich frage zurück: "Vor wem brauche ich denn Schutz?" Es ist das alte Spiel von (nicht zufällig) weißem gegen schwarzen Ritter, das vor allem ein (potenzielles) Opfer braucht - das Narrativ der Damsel in Distress, die Jungfrau, die gerettet werden muss. Dabei ging es noch nie um die Jungfrau, sondern immer nur darum, dass er sich selbst unabhängig von sozialem Status und Geburtstitel als Prinz und sie mitsamt Schutz und Glück abhängig von ihm behaupten kann: "Wenn du nichts bist und hast, bist du immer noch ein Mann." Ungünstig, wenn die andere Seite nicht mehr mitspielt und die Rechnung also nicht mehr aufgeht. Deshalb reagieren Männer mittlerweile zunehmend mit noch mehr Gewalt und allen Formen von Dominanz gegen Frauen; es ist der verzweifelte Versuch, Frauen wieder auf die ihnen vor zig Jahrhunderten zugeschriebenen Plätze zu verweisen, uns einzuschüchtern; es soll uns kontrollieren, endlich wieder.
"Was lange gärt, wird Wut."
Zu den vielen Attributen, die Frau im Patriarchat nicht zu haben, zumindest nicht zu äußern hat, zählt Wut und sie steht ganz weit oben. Denn mit ihr könnte sie den Strukturen und jeder männlichen Vormachtstellung tatsächlich gefährlich werden - und Mann weiß das. Mir ist das nur schon so derart lange gleichgültig, dass ich es mittlerweile vergesse und ungeniert wütend bin. Aus Erfahrung weiß ich zudem, dass sich diese Emotion, die im übrigen aus guten Gründen und geschlechtsunabhängig zur menschlichen Grundausstattung gehört, ohnehin weder verdrängen noch ignorieren lässt. Im Gegenteil. Dafür ist viel zu ehrlich: unsere Wut meint es gut mit uns. Sie ist tatsächlich eine gute Freundin, eine von der Qualität, die uns nicht nur kennt und liebt, sondern ehrlich an unserem Wohlsein und Wachstum interessiert ist. Ja, manchmal geht unser Ego mit ihr durch: dann tanzen die beiden wild über alle Tische und zerschlagen allerhand Porzellan. Doch dem Einhalt zu gebieten, das lässt sich üben, wenn wir denn lernen, sie ehrlich anzuerkennen und zu betrachten. "Was lange gärt, wird Wut" sagte ein Bekannter mal, und auch das stimmt. Wann immer ich meine nicht ernst nahm oder glaubte, besser zu fahren, wenn ich sie beiseite schiebe, wurde sie größer - bis sie unausweichlich im Weg stand; oft ging dem viel selbstverletzendes Verhalten voraus.
Die zuvor erwähnte Freundin beendete unser Gespräch mit einem Wunsch: "Ich habe keine Freundin, die ihrer berechtigten Rage derart befreit Raum gibt und die so gut darin ist, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen und es sich erlaubt - warum kannst du das? Ich empfinde das sogar von außen als befreiend, also: Schreib doch auch mal darüber!" Gut, liebe Freundin: Dieser Text ist für dich.
"Von der Last kann ich Sie befreien!"
1979, eine Kleinstadt in der DDR. Meine Mutter ist Mitte 30, geschieden, lebt zusammen mit ihrer 15-jährigen Tochter und in wilder Ehe mit einem Mann, der mein Vater werden wird. Den Großteil des Jahres wird sie glücklich schwanger verbringen. Gegen ärztlichen Rat, der ihr die Abtreibung empfiehlt, denn: „In Ihrem Alter, unverheiratet, Sie haben doch auch schon ein Kind, das reicht doch. Außerdem, diese Zwischenblutungen – von der Last kann ich Sie befreien!“ Diese Blutungen waren der Grund für ihren Arztbesuch, von dem sie sich Hilfe bei der Schwangerschaft und das Kind - mich - erhofft hat: Sie will nicht befreit, sondern unterstützt werden, was sie ihm deutlich macht. So verordnet er ihr schließlich vor allem Ruhe und sie bewahrt und trägt mich bis zum Oktober. In den Wehen weist der nächste Arzt sie zurecht und meint, es besser als die Frau vor ihm zu wissen: „Nun stellen Sie sich doch nicht so an, Sie haben das doch schon mal gemacht!“ Zum Glück gibt es neben meiner Mutter noch eine Frau im Raum: die Hebamme. Sie gibt dem Mann zwei Optionen: helfen oder gehen. Er wählt Ersteres und gegen Mittag bringt meine Mutter mich in diese Welt.
Ein halbes Jahr nach meiner Geburt beschließen meine Eltern zu heiraten. Grund: die gemeinsame Ausreise, die sich als „ordentliche Familie“ leichter durchbringen lässt. So ihre Annahme.
Es folgen knapp fünf Jahre, in denen die Anträge ohne Begründung abgelehnt werden, meine Mutter sich regelmäßig zu Stasi-Verhören einfinden muss, um sich zu erklären. Mein Vater auf Montage, sie in Teilzeit mit mir meist allein in dieser Kleinstadt, in der bis heute nicht allen bekannt ist, wer inoffiziell die Nachbarschaft bespitzelt und verraten hat. Es obliegt meist ihr sich diesen Terminen zu stellen. Allein gegen die Obrigkeit. Meiner Schwester nimmt sie jedes Mal das heilige Versprechen ab, sich um mich zu kümmern und mit allen Mitteln zu verhindern, dass ich in eines der zurecht gefürchteten DDR-Kinderheime komme, sollte sie nicht zurückkehren.
Fortan ist sie meiner Mutter ständiger Begleiter und wird es für viele Jahre bleiben: Angst. Davor, dass man sie im Anschluss an die Verhöre ins Gefängnis und mich ins Heim steckt. Berechtigte Angst: Knast war gängiger Umgang mit Ausreisewilligen, das andere bekanntes Druckmittel insbesondere gegen Mütter.
Allein gegen die Obrigkeit: Ihre größte Macht ist deine Angst.
Sie versucht, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen: aus Stolz und der Ahnung, dass das die Staatsmacht in ihrer Vermutung bestätigen wird, sie damit kontrollieren und von ihrem Begehr abbringen zu können. Diktaturen ziehen ihre größte Macht aus Angst; sie ist eine der ältesten Kontrollinstrumente jedes Systems, das auf Ungleichheit und Dominanz setzt; integraler Bestandteil patriarchaler Drohkulisse. Doch weit gefehlt.
Denn mit der Zeit gesellt sich noch ein anderes Gefühl dazu: Wut. Wut über die Gängelei, die staatliche Willkür, die sich auch in der Bewilligung und Ablehnung von Anträgen bei keiner erkennbaren Logik oder Muster zeigt. Und: Wut über die Angst, die sie hat. Die man ihr macht. Weil sie das Land verlassen will. Die Angst, die vor allem Männer verursachen: so wie die Verhöre ausnahmslos von Männern geführt werden, war auch die DDR ein patriarchaler Staat.
Partnerschaftsgewalt in der DDR: Was nicht sein darf, das gibt es nicht.
Die Gewalt gegen Frauen war auch in der DDR eine tägliche, Partnerschaftsgewalt war weit verbreitet; auch dort wurden Frauen auf dem Tisch der Ideologie geopfert und für den Erhalt männlichen Selbst- und Politikverständnisses missbraucht und instrumentalisiert. Es gab in der gesamten DDR solange sie existierte aus einem einzigen Grund weder Frauenhäuser noch andere Zufluchtsorte für Frauen, die der männlichen Gewalt ihrer Partner entkommen wollten: Weil es diese Gewalt offiziell nicht geben durfte. Somit konnte es keinen Grund für die Schutzorte geben, hatte keiner zu existieren. Auch das hatte meiner Mutter in ihrer ersten Ehe bis zur Scheidung schmerzlich erfahren müssen. Irgendwann war es der eine Schlag, der eine Fausthieb zu viel. Irgendwann ersetzte Schmerz ihre Hoffnung auf seine Besserung, die Scham wich der Wut und mir ihr kam auch der nötige Mut, um sich zu befreien.
Eine ähnliche Dynamik wirkt auch irgendwann mit der Stasi. Die Wut über die Willkür und die von der Staatsgewalt verursachte Angst macht sie mutig und kämpferisch. Ein ums andere Mal stellt sie neue Anträge. Im letzten Verhör wird sie so ungeniert ehrlich über ihre Position, dass der vor ihr sitzende Staatsdiener sie darauf hin- und zurecht weist, sie solle besser aufpassen, was sie sagt: man könne ihr ja auch die Pässe wegnehmen. Woraufhin sie die Pässe auf den Tisch knallend antwortet: „Dann nimm die doch – wo soll ich denn damit hin?!“
Das Schweigen in diesem Verhörraum muss ohrenbetäubend gewesen sein. "Angst essen Seele auf" ist bis heute ein Titel und eine Beschreibung, die mir nah geht. In diesem Moment hatte ihr Herz sich befreit und ihre Seele sich dazu entschieden, sich nicht weiter auffressen zu lassen. Wissend, dass es Irrglaube, Naivität oder Hochmut ist zu meinen, man könne ein Willkür- und Unrechtsregime wie die DDR oder ihre Diener mit Logik oder Weichheit oder Bitten bezwingen.
Mut und Wut sind Schwestern, Töchter der selben Mutter: Angst; auch deshalb sind sie so mächtig.
Wie sie mir irgendwann erzählt, war ihr und mein Glück, das beide von uns vor staatlichen Korrekturanstalten bewahrte: die Unerfahrenheit des jungen Stasimannes und ihre brennende Wut, auf die er keine Antwort hatte. Diese, ihre Wut, die sie so mutig werden ließ, dass sie sich traute ihn in seiner Ohnmacht ihr gegenüber mit seiner vermeintlichen, real nicht existierenden Wirkmacht der Drohung vorzuführen. Als er seine Sprache wiederfand, schickte er sie mit „Wir sind für heute fertig“ nach Hause. Die Stasi-Akten zu ihr haben ihr Verhalten entsprechend kommentiert festgehalten.
Monate später kommt der ersehnte Bescheid: Meine Eltern und ich sind aus der Staatsbürgerschaft entlassen, binnen weniger Wochen müssen wir nun das Land verlassen. So lande ich über Umwege und Auffanglager in West-Berlin.
Neben der Wut gab es noch etwas, das sie so mutig werden ließ: die Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Leben in mehr Freiheit, als die DDR es ihren Staatsbürger:innen zugestehen wollte, nach mehr Selbstbestimmung und ohne Angst vor offiziellen oder inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern und allen Menschen mit Blockwartmentalität.
"Hab keine Angst; werd wütend!"
Alles davon zählt zu meinem Erbe: die Sehnsucht, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und Freiheitsdrang, die Wut insbesondere gegen Obrigkeit und Einschüchterungsversuchen, ganz gleich aus welcher Ecke. In diesem Geist ließ sie mich aufwachsen: mutig dem eigenen Sehnen folgen. Sich weder von Mann noch Strukturen aufhalten oder gar Angst machen lassen. Besser: wütend werden. Wut macht Mut. Dafür bin ich ihr auf ewig dankbar. Wir vererben und erben nicht nur Trauma, sondern manchmal – mit Glück - auch die Wut, den Mut und die Kraft, um sie zu überleben und aus ihnen etwas Lebendiges zu machen; manchmal ist es: Geschichten erzählen und Erfahrungen bewahren, um gewisse Funken weiterzureichen …